Die
Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist gewaltig. Doch gleichzeitig
verbreitet sich zusehends der Wille, diese Herausforderung anzunehmen, und
das ist sehr ermutigend für all jene, die sich für eine bessere Welt
einsetzen.
Ich beschränke
mich hier darauf, einige grundlegende Tatsachen über dieses Phänomen in
Erinnerung zu rufen, das man Globalisierung nennt. Es handelt sich um eine
unpassende Bezeichnung für diese sehr spezifische Form der internationalen
Integration, die die mächtigsten Staaten allen anderen aufzwingen, die im
Interesse privater Machtkonzentration umgesetzt wird und die kaum etwas mit
den Anliegen der Bevölkerungen zu tun hat.
Es gibt keinen
Grund, gegen die Globalisierung an sich anzukämpfen: Wenn diese den
Interessen der Menschen entsprechend strukturiert wäre, müsste man sie als
Fortschritt begrüßen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die internationale
Integration der Wirtschaft stetig vorangeschritten. Sie erreicht heute grob
gesagt wieder einen Stand, der mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts
vergleichbar ist. Doch wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass die
Strukturen heute viel komplexer sind. In der Nachkriegszeit lassen sich zwei
deutlich verschiedene Phasen unterscheiden. Die erste, die ich
Bretton-Woods-Phase nenne, dauerte bis anfangs der 70er Jahre. Seither sind
wir in der zweiten Phase, in der das Bretton-Woods-System der festen
Wechselkurse und Kapitalverkehrskontrollen zerstört wurde. Diese zweite Phase
wird in der Regel als Globalisierung bezeichnet und mit der sogenannten
neoliberalen Politik in Verbindung gebracht.
In Wirklichkeit
ist diese Politik weder neu noch liberal. Sie verlangt
Strukturanpassungsprogramme nach den Prinzipien des „Konsenses von
Washington“ (den die US-Regierung, der Pentagon und die internationalen
Wirtschafts- und Finanzinstitutionen teilen) von den armen Ländern und leicht
abgeänderte Versionen davon von den weiter entwickelten Ländern. Diese zwei
Phasen sind sehr unterschiedlich. Die erste, die Bretton-Woods-Phase, wird
von vielen Ökonomen als goldenes Zeitalter des industriellen
Staatskapitalismus bezeichnet. Die zweite Phase hingegen, für die man den
Begriff Globalisierung verwendet, wird oft als bleiernes Zeitalter
bezeichnet, in dem sich makroökonomische Standard-Indikatoren wie das
Wirtschaftswachstum, die Produktivitätsentwicklung usw. markant
verschlechtert haben. Es gibt eine weit verbreitete Behauptung, die
Globalisierung, also die zweite Phase, habe einen bedeutenden Anstieg des
Wohlstands gebracht, auch wenn dabei einige Menschen vergessen worden seien
und nicht von ihren beträchtlichen Vorteilen profitiert hätten, was nun noch
zu korrigieren wäre. Diese Sicht der Dinge ist nur teilweise richtig, und
höchstens in Bezug auf die erste Phase. In der zweiten Phase gibt es keine
Zweifel daran, dass die Ungleichheiten rasch angewachsen sind. Doch im Grunde
genommen sind alle diese Behauptungen völlig unzutreffend. Die Entwicklung
bietet in allen Regionen der Welt ein düsteres Bild; vielleicht mit Ausnahme
einiger asiatischer Länder, die zumindest eine gewisse Zeit lang in der Lage
waren, die Spielregeln zu brechen.
Schauen wir uns
einmal das reichste Land der Welt an, die Vereinigten Staaten von Amerika.
Man will uns weismachen, hier hätte sich eine märchenhafte Wirtschaftswelt
entwickelt. Dies stimmt aber nur für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung,
zu dem zufälligerweise auch jene gehören, die uns unaufhörlich diese frohe
Botschaft verkünden. Für die meisten Lohnabhängigen, jene, die keine
leitenden Funktionen ausüben, also für etwa 80 Prozent der Beschäftigten in
den USA, sind die Löhne seit den 70er Jahren gesunken. In den letzten Jahren
sind die Löhne insgesamt etwa auf den Stand von 1989 zurückgekehrt, auf den
Stand vor dem letzten Konjunkturzyklus. Aber sie sind immer noch deutlich
unter dem Niveau von vor 20 Jahren. Die Medianlöhne der Männer liegen trotz
dem Anstieg der letzten Jahre immer noch tiefer als 1989. Die
Mittelstandsfamilien, die Familien mit mittleren Einkommen, konnten ihr
Einkommensniveau nur dank gesteigerter und verlängerter Arbeitsbelastung
aufrecht erhalten. Diese Familien müssen heute etwa sechs Wochen pro Jahr
mehr arbeiten als vor zehn Jahren, um ungefähr gleich viel zu verdienen. Die
USA verzeichnen heute weltweit die höchste Arbeitsbelastung und haben
diesbezüglich Japan vor einigen Jahren überholt. Dieses Wachstum wurde von
einem Boom des Privatkonsums getragen, der seinerseits nicht unwesentlich
einer massiven Propaganda-Kampagne zu verdanken war, deren Auswirkungen jetzt
sichtbar werden: Die Verschuldung der privaten Haushalte wurde in die Höhe
getrieben. Sie befindet sich heute auf einem nie da gewesenen Stand und
übertrifft erstmals das gesamte verfügbare Volkseinkommen.
Das Märchen ist
im wesentlichen den Aktienmärkten zu verdanken, die bis vor einem Jahr
schwindelerregende Kurssteigerungen verzeichneten. Hier liegt gegenwärtig die
Hauptquelle des weltweiten Wirtschaftswachstums. Es sei aber daran erinnert,
dass ein Prozent der Bevölkerung beinahe die Hälfte aller Aktien besitzt,
wogegen nur etwa 4 Prozent der Aktien den „unteren“ 80 Prozent der
Bevölkerung gehören. Die Armutsrate liegt höher als vor 20 Jahren.
Diesbezüglich ist die Situation in den USA und in Großbritannien am
schlimmsten von allen Industrieländern. In diesen beiden Ländern wurde die
neoliberale Politik kompromissloser als in allen anderen umgesetzt. Im
goldenen Bretton-Woods-Zeitalter stiegen die Einkommen rasch an, und
insgesamt geschah dies auf eine ziemlich egalitäre Weise. Tatsächlich stiegen
die Einkommen der untersten 20 Prozent am schnellsten an, jene der obersten
20 Prozent am langsamsten. Im bleiernen Zeitalter der Globalisierung ist das
Gegenteil der Fall, und die Einkommensverteilung ist höchst ungleich. Die
Einkommen steigen nur ganz oben an, während dem sie bei den untersten 20
Prozent rückläufig sind.
Ein Blick
hinter die Fassaden der Märchenwelt der kalifornischen New Economy bestätigt
diese Realität ebenfalls. Kürzlich wurde eine Studie veröffentlicht, die sehr
schön aufzeigte, was in Kalifornien in den letzten zehn Jahren geschehen ist.
Die durchschnittliche Kaufkraft der Familien ist im Verlauf der 90er Jahre um
ca. 1000 Dollar gesunken. Die Durchschnittslöhne und -einkommen sind
gesunken. Die Armutsrate ist gestiegen. Nur der Staat New York kennt größere
gesellschaftliche Ungleichheiten.
Dieses Bild ist
typisch für die gesamte Welt. Nur ist die Situation in den armen Ländern noch
schlimmer. Es gibt Ausnahmen. Ich habe Länder erwähnt, die eine gewisse Zeit
lang die Regeln brechen konnten, zum Beispiel, auf sehr spektakuläre Weise,
China. Aber nicht für lange Zeit. Für China heißt es nun ebenfalls
„Willkommen im Club!“, nachdem kürzlich ein Freihandelsabkommen unterzeichnet
wurde, bei dem es sich eigentlich um ein „freie-Investitionen-Abkommen“
handelt, um das Wall Street Journal zu zitieren. In der US-Presse wurde
dieses Abkommen als frohe Botschaft für die Finanzkonzerne, für die
Telekombranche, für Boeing und andere Unternehmen gefeiert. Doch wer das
Kleingedruckte liest wird merken, dass nicht alles so rosig ist. Zum Beispiel
gibt es das Problem von Dutzenden oder Hunderten Millionen chinesischen
ArbeiterInnen, die in ineffizienten Fabriken arbeiten und deren Arbeitsplätze
verschwinden werden.
Diese Fabriken
sind genauso ineffizient wie viele amerikanische Fabriken in den 80er Jahren.
Präsident Reagan, der die protektionistischste Politik der USA in der
gesamten Nachkriegszeit betrieben hat, verbannte daraufhin japanische
Produkte vom US-Markt und versuchte, die US-Industrie mit staatlicher
Unterstützung wieder auf Vordermann zu bringen. Aber China wird dies nicht
tun können: Es ist ein armes Land. Diese ineffizienten Fabriken garantieren
ihren Angestellten nicht nur den Lebensunterhalt, sondern zugleich
Versicherungsprämien für die Altersvorsorge. Und dann gibt es da noch ein
kleines Problem: Eine Million amerikanische Lohnabhängige werden ihre Stelle
verlieren, da Billiglohnarbeit nach China abwandern dürfte. Theoretisch
könnte das gut sein für China und dort zu einem Anstieg der Löhne führen,
wenn da nicht noch ein anderer kleiner Nachteil des
„freie-Investitionen-Abkommens“ wäre. Man erwartet, dass 900 Millionen
chinesische Bauern ihre Höfe verlassen werden müssen und in große
Schwierigkeiten geraten werden, wenn ihr Heimmarkt von subventionierten
Exportprodukten der amerikanischen Agro-Industrie überflutet wird. Diese
US-Importwelle wird sie massenweise auf den chinesischen Arbeitsmarkt spülen
und auf die Löhne drücken.
Das erinnert
uns an die Zustände vor unserer eigenen Haustüre, im benachbarten Mexiko. Im
Zuge der neoliberalen Reformen sind die Lebensstandards und Einkommen seit
Beginn der 80er Jahre für 80 Prozent der Bevölkerung gesunken, und die
Einführung der NAFTA hat diesen Trend nicht beendet, entgegen allen
Beteuerung der Mainstream-Ökonomen. Wenigstens haben einige andere Ökonomen
davor gewarnt. Die NAFTA ist wohl eines dieser seltenen Handelsabkommen, die
der Mehrheit der Bevölkerung aller beteiligten Länder schaden. Es ist nicht
schwierig, weitere Beispiele zu finden. Von nun an dürften die von den
Reichen durchgesetzten Spielregeln zu einer Verallgemeinerung dieser
Auswirkungen führen. So haben zum Beispiel die Regeln der WTO jene
Mechanismen für illegal erklärt, derer sich ausnahmslos alle reichen Länder
in der Vergangenheit bedient haben, um ihr gegenwärtiges Entwicklungsstadium
zu erreichen. Und wer jene Abkommen genauer anschaut, die fälschlicherweise
Handelsabkommen genannt werden und eigentlich Abkommen zugunsten der Rechte
der Investoren sind, wird feststellen, dass es sich um eine Kombination von
Liberalisierung und Protektionismus handelt, die den größten Unternehmen
enorme Profite garantieren, indem sie in monopolistischer Weise die Preise
für ihre Produkte festlegen können, die meist mit bedeutender Unterstützung
des öffentlichen Sektors entwickelt worden sind.
Es hat ein
gewaltiger Anstieg der spekulativen Kapitalbewegungen stattgefunden, der zum
eigentlichen Charakterzug der Phase der Globalisierung geworden ist. Diese
Kapitalflüsse schränken die politischen Optionen der Regierungen ein,
verleihen dem Finanzkapital ein Vetorecht, unterlaufen die Volkssouveränität
in den demokratischen Regimes und stellen alle fortschrittlichen Wirtschafts-
und Sozialpolitiken in Frage, die der Bevölkerung eher zugute kommen als den
Investoren. Es bildet sich ein Merkantilismus der Konzerne heraus, eine
liberale internationale Ordnung, in der die Entscheide über soziale und
wirtschaftliche politische Fragen immer mehr in den Händen des Privatkapitals
konzentriert sind, das sich durch sehr hohe Machtkonzentrationen auszeichnet,
die Märkte verwaltet und sowohl als Werkzeug wie auch als Tyrann der
Regierungen agiert, um Madisons 200 Jahre alte Beschreibung der Gefahren für
die Demokratie in Erinnerung zu rufen.
Es ist daher
keine Überraschung, dass diese zweite Phase, jene der Globalisierung, rund um
die Welt beträchtliche öffentliche Proteste hervorgerufen hat. Dabei sind
sich gesellschaftliche Kräfte mit unterschiedlichem Hintergrund näher
gekommen, aus reichen sowie aus armen Ländern. Das ist neu und sehr
ermutigend. Das heutige Meeting bietet weitere Gelegenheiten, diesen Prozess
voranzutreiben. Es dient der Ausarbeitung neuer Alternativen, um die große
Mehrheit der Weltbevölkerung nicht nur gegen einen Angriff auf die
grundlegenden Menschenrechte zu verteidigen, sondern darüber hinaus die
inakzeptable Konzentration der Macht zu zerschlagen und das Reich der
Freiheit und der Gerechtigkeit auszuweiten.
Prof. N.
Chomsky ist Sprachwissenschaftler und setzt sich seit mehreren Jahrzehnten
kritisch mit der us-amerikanischen Politik auseinander.