Man kann alle Menschen, gleich welche Denkstruktur
sie haben, in zwei Gruppen einteilen, und zwar in die Gruppe derjenigen,
die alles hinterfragen, und in die Gruppe derjenigen, denen das in Frage
stellen fremd ist und die davor zurückscheuen. Für Philosophen und Denker,
die die menschliche Wahrheit herauskristallisieren wollen, ist diese Scheu
vor Fragen gleichbedeutend mit einer Flucht vor sich selbst. Wer denkt
über seine auf einer bestimmten Lebensweise basierenden Einstellungen und
Meinungen nach, die letztlich das Verhalten bestimmen? Wer überlegt, ob
sein Verhalten richtig oder falsch ist? Kann man das Verhalten
argumentativ als richtig rechtfertigen? Woher kommt die jeweilige
Denkstruktur? Basiert sie auf vernünftiger und wissenschaftlicher
Kenntnis, oder wurde sie einfach übernommen, ohne sie kritisch zu
hinterfragen? Vielleicht war es Ihnen bislang auch nicht wichtig, wie Sie
zu diesem Verhalten kamen. Möglicherweise waren Sie so mit der
Alltäglichkeit des Lebens beschäftigt, dass Sie über diese Fragen nicht
nachgedacht haben. Wenn man z. B. bei jemandem in Glaubensfragen kritisch
nachfragt, beginnt er erst über die Frage nachzudenken oder er schaut den
Fragenden ob seiner Frage böse an. Welche Bedeutung hat für sie das
Hinterfragen von Dingen, und inwieweit versuchen solche Menschen, Dinge
auf der Basis von Logik und Vernunft zu verstehen? Der Mensch findet keine
Ruhe, wenn er auf seine Fragen keine logischen Antworten findet.
Kurzer Überblick über die Geschichte des Fragens
im Westen
Die wichtigste und bedeutendste Frage der
Religionsphilosophie sucht zu klären, wie man seinen religiösen Glauben
und seine religiösen Einstellungen auf ein logisches und argumentatives
Denksystem gründen kann. Die Philosophen akzeptieren den religiösen
Glauben und selbst den Glauben an Gott nicht kritiklos. Dies wird im
Westen als evidentialistische Herausforderung bezeichnet. So hat Anatol
Franz gesagt, sein Rücken habe sich unter Fragezeichen gebogen.
Leo Tolstoi, der sich ernsthaft mit der Kultur des
Hinterfragens konfrontiert sah, sagte, dass ihm nach jahrelangen
vergeblichen Bemühungen, Antworten auf seine Fragen zu finden, das Leben
sinnlos erschien. Die Epoche der Aufklärung hat vielen Menschen zu einer
Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit verholfen.
Im Hinblick auf religiöse Angelegenheiten, die mit
Logik und Ratio begründet werden, gibt es im Westen unterschiedliche
Theorien. John Locke betonte die Bedeutung der Erfahrung. Einige Denker
wie David Hume, Bertrand Russell, Rudolf Carnap und viele andere haben
sich nicht mit der Frage der Religion befasst und das Prinzip der Religion
geleugnet. Kierkegaard und Wittgenstein haben versucht, den Sinn der
Religion logisch und argumentativ darzustellen, weil sie davon ausgingen,
dass der Mensch des Glaubens bedarf. Kant und William James räumten dabei
der praktischen Vernunft den Vorzug ein vor der theoretischen Vernunft.
Der Rationalismus hat sich in eine moderate und eine extreme Richtung
entwickelt, die beide Anhänger fanden.
Wie bereits erwähnt liegt es in der Natur des
Menschen, Dinge in Frage zu stellen und folglich sieht sich jeder Mensch
damit konfrontiert, aber der erste westliche Denker, der sich intensiv und
wissenschaftlich damit befasst hat, war John Locke. Er suchte bei der
Kirche nach Antworten auf seine Fragen und nach Beweisen und lehnte es ab,
dass die Kirche von den Gläubigen Glauben ohne jegliche Beweise und
Begründungen einforderte. Er hat die Gruppe der Gotterfüllten kritisiert,
die unabhängig davon, ob man für den Glauben Beweise sucht oder nicht, ihr
ganzes Wesen als mit Gottesliebe erfüllt ansahen. Die Gotterfüllten
bejahen das Missionieren und die Verbreitung ihrer religiösen Begeisterung
für Gott. Und sind der Ansicht, dass man den Menschen keine Beweise
liefern muss, sondern dass diese einfach akzeptieren und glauben sollen.
Locke sprach sich nicht gegen Offenbarungen allgemein aus, aber er lehnte
die Forderung nach bedingungsloser Akzeptanz ab und forderte deshalb
Beweise und rationale Argumente für ihre Ansichten, weil seinem eigenen
Gottesbild zufolge Gott den Menschen niemals ohne Beweis zu etwas
verpflichtet.
Die von Locke und Hume gegen den Dogmatismus
vorgebrachten Ansichten haben Kant veranlasst, sich mit dieser Thematik zu
beschäftigen. Kant hat von sich selbst gesagt, Hume habe ihn aus dem
Schlaf des Dogmatismus erweckt, und er entwickelte eine kritische
Sichtweise von der Metaphysik und war der Meinung, dass die theoretische
Vernunft in der Beweisführung metaphysischer Fragen nicht genüge. Er hat
folglich von der praktischen Vernunft gesprochen, um auf diesem Wege
religiöse Thesen mit Logik und Vernunft zu beweisen und letztlich auch das
Wesen Gottes. Nach Kants Ansicht kann man aufgrund ethischer Notwendigkeit
mittels der Vernunft zum Wesen Gottes gelangen, weil die Welt der Moral
die Welt der Vervollkommnung und der Vollkommenheit ist und Gott als
Symbol der Vollkommenheit eine logische Notwendigkeit ist.
Die Zeit zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert
kann man als Epoche der Entfremdung zwischen Religion und Vernunft
bezeichnen. Viele Denker und Philosophen haben aufgrund der
Nichtüberprüfbarkeit religiöser Aussagen die Logik der Religion in Frage
gestellt. Ich glaube an die Notwendigkeit der Fragestellung im Sinne einer
Wissenserweiterung des Menschen, die ihm hilft, Entscheidungen zu treffen,
und ohne die sein Verhalten nicht vernünftig ist. Ich stehe einer Frage
positiv gegenüber, wenn sie wissenschaftlich und logisch begründet ist.
Die heftige Reaktion von Denkern wie Marx, Nietzsche, Kierkegaard und
anderen auf alle religiösen Ideen und die Offenbarung und ihre Kritik an
der Metaphysik resultiert meiner Meinung nach aus der Tatsache, dass Hegel
die Logik der Religion, des religiösen Glaubens und der Metaphysik nicht
hinreichend erörtert hat. Deshalb sehen wir hier, dass diese Denker den
religiösen Gedanken Hegels und nicht die Religion allgemein kritisiert
haben.
Wenn man etwas in Frage stellt ist dies der
menschlichen Gesellschaft und der Kreativität dienlich. In diesem Sinne
sind die Marx'sche Sichtweise von der Religion, die ihn letztlich zu dem
Urteil führte, Religion sei Opium für das Volk, wie auch die Ankündigung
des Endes der Metaphysik durch Nietzsche oder die heftige Reaktion
Kierkegaards auf den Idealismus, der religiösen Thematik insgesamt
nützlich, weil die religiösen Ansichten gründlicher diskutiert und der
religionsphilosophische Diskurs vertieft wurden. Die geistige
Auseinandersetzung mit den offenen Fragen der Religion hat zwei
unterschiedliche Gruppierungen entstehen lassen:
- Die Gruppe derjenigen, die die Religion nicht anerkennen, weil sie
nicht überprüfbar ist.
- Die andere Gruppe - mit Wittgenstein als Hauptvertreter - ist der
Meinung, dass religiöse Aussagen aufgrund ihrer Bedeutung für das
menschliche Leben und die Gesellschaft nicht der wissenschaftlichen
Überprüfung und Rechtfertigung bedürfen, weil sie auch ohne
wissenschaftliche Überprüfung anerkannt und gültig sind; dies impliziert
jedoch nicht, dass die religiösen Aussagen nicht zu rechtfertigen
sind.
Sichtweise der christlichen
Theologen
Wie die Theologen der anderen himmlischen Religionen
sahen sich auch die christlichen Geistlichen mit dem Hinterfragen der
Religion konfrontiert. Die Frage lautete, wie man an eine unüberprüfbare
Metaphysik und einen unvorstellbaren Gott glauben kann, wie der Mensch
sein Verhalten und seine Beziehungen zu den Mitmenschen danach ausrichten
und die Gesamtheit seiner Überzeugungen darauf gründen kann. Hinter dieser
Frage steht keine Ablehnung, sondern vielmehr geht es um die Beziehung des
irdischen Menschen zum immateriellen Phänomen Gott. Die christlichen
Theologen haben diese Frage weitgehend ignoriert und nicht ausführlich
genug behandelt, um eine Antwort darauf geben zu können. Sie haben sich
mit der Antwort zufrieden gegeben, dass der Glaube über Vernunft und
Beweisführung hinausgeht und Gott vom menschlichen Verstand allein nicht
erfasst werden kann und es folglich keinen anderen Weg gibt als durch
Jesus zu Gott zu gelangen, weil Gott in Jesus erschienen ist. Auch
Schleiermacher, neoorthodoxe und christliche Existenzphilosophen wie
Kierkegaard, und auch Wittgenstein sind ähnlicher Meinung; ob jedoch die
Antwort die moderne Philosophie und zeitgenössische Wissenschaft zu
überzeugen vermochte, ist eine andere Frage.
Extremer Rationalismus
Der denkende Mensch wurde mit vielen derartigen
Fragen konfrontiert und musste darauf eine überzeugende Antwort finden.
Diese Tatsache hat viele Denker zu einem extremen Rationalismus geführt.
Sie haben versucht, diese Fragen und vor allem anderen die Frage nach dem
Wesen Gottes zu beantworten und mit Beweisen zu belegen. Ihre Argumente
gründeten sie auf selbstverständliche Prämissen, und diese haben sie mit
der Ansicht verbunden, dass jeder, der über ein wenig Verstand verfügt,
von diesen Argumenten überzeugt sein wird und, wenn ihn diese Argumente
nicht überzeugen oder er mit der Antwort unzufrieden ist, das Problem bei
ihm selbst liegt und nicht bei den religiösen Argumenten. Diese
Argumentationsweise machte viele Menschen unzufrieden, und sie lehnten
einen solchen Dogmatismus ab. Deshalb muss man bei der Beantwortung
solcher Fragen die Denkstruktur der angesprochenen Menschen
berücksichtigen, weil man ansonsten keine überzeugende Antwort geben kann.
Es gibt z. B. viele Gottesbeweise von islamischen Philosophen, wie Mulla
Sadra, dessen Beweis als "wahrhaftiger Beweis" bekannt ist, oder von
Mystikern oder z. B. von Ibn Sina, der in seinem Buch "Iparat" von der
Regel der unendlichen Verkettung spricht, die von anderen Philosophen wie
z. B. Abu Muhammad al-5azali in Verbindung mit Ordnung akzeptiert wird, d.
h. eine unendliche Verkettung, die auf keiner Ordnung basiert, wird als
unmöglich angesehen, und auch die Mathematiker akzeptieren diese Regel
nicht. Wenn die Glieder der Verkettung eine Ordnung haben und gegenwärtig
sind, wie z. B. die Zeit, deren Wirklichkeit nach und nach offenbar wird
und mit der Erscheinung eines Teils ein anderer Teil verschwindet, stellt
sich die Frage, warum in solchen Fällen eine Regel der Verkettung
unmöglich sein sollte.
Für jemanden, für den die Zahl das ursprüngliche
Element und die Grundlage seiner Vorstellungen ist, ist diese Regel der
Verkettung nicht akzeptabel, denn wie sollte er mit dieser Regel zu einem
Ergebnis kommen. Wenn derartige Regeln versagen, bedeutet das aber nicht,
dass das Wesen Gottes in Frage gestellt wird. Wir suchen nach einer
Interpretation der Erkenntnis aus den Antworten, die für uns bei offenen
Fragen eine Schlüsselfunktion einnehmen. Man könnte z. B. fragen aus
welcher Notwendigkeit heraus religiöse Angelegenheiten auf der Grundlage
der Erkenntnistheorie bewiesen werden sollen, die von Philosophen wie N.
R. Hanson, Quine oder Wilfried Sellars nicht anerkannt wird? Beantwortend
kann man sagen, dass die Erkenntnistheorie von einigen anerkannt wurde,
während andere versuchen sie weiterzuentwickeln.
Moderate Letztbegründungstheorie
Meine Bemühungen zielen darauf ab, für alle
akzeptable Antworten zu finden, auf denen die religiöse Interpretation
aufbauen soll. Wie kann man die Erkenntnistheorie, die auf geistigem
Bemühen und auf Kenntnis basiert, für ungültig erklären und nicht
anerkennen und wie kann man die religiösen Dinge vernünftigen Menschen
erklären ohne sie zum Dogmatismus zu führen? Argumente und Beweise allein
reichen nicht aus. Vielmehr müssen sie auf die Bedürfnisse der gläubigen
Menschen ausgerichtet sein, damit man die religiöse Kultur argumentativ
voranbringen kann. Wie könnte man sonst wie bei David Hume auf der
Grundlage von Experimenten Gott beweisen?
Wenn man die religiösen Aussagen der experimentellen
Methode unterwirft, ist man nach Ansicht der Vertreter der
Experimentalwissenschaft dem Beweisen und Erklären dieser Aussagen einen
Schritt näher gekommen.
Vernünftige Fragen erfordern vernünftige Antworten,
und wenn man diese beiden Aspekte nicht berücksichtigt, ist eine
vernünftige Forschungsarbeit nur schwer möglich. Es wird für religiöse
Aussagen keine Akzeptanz geben, wenn sie nicht logisch und vernünftig
dargelegt werden. Es gilt, die klare Argumentation mit innerer Akzeptanz
zu verbinden.
Zum Vorschlag der
Letztbegründungstheoretiker
Eine andere Methode, den fragenden Menschen Antworten
zu geben ist eine besonders von Descartes und Locke entwickelte Methode.
Alvin Plantinga hat versucht, diese Fragen in einer einfachen und dennoch
wissenschaftlichen Art und Weise zu beantworten und zwar in Form einer
logischen Analyse der religiösen Aussagen. Er ist der Meinung, dass viele
religiöse Aussagen, die er als Grundüberzeugung bezeichnet, keiner
Prämissen und Beweise bedürfen. Für Locke und Descartes bedarf die
mathematische Aussage 2+2=4 keines Beweises, und derartige religiöse
Aussagen gibt es in der Religion zur Genüge. Plantinga akzeptiert im
Unterschied zu Locke und Descartes die Grundüberzeugung als
selbstverständliche Annahme nicht und stellt sogar das Rechenbeispiel
2+2=4 in Frage. Ihm zufolge sagt die Selbstverständlichkeit eines
Phänomens nichts über dessen Richtigkeit oder Falschheit aus. Er vertritt
die Ansicht, dass die Aussage "Gott existiert" zu den Aussagen gehört, die
man nicht hinterfragen muss und die keiner Rechtfertigung und keines
Beweises bedürfen. Kann man behaupten, dass bestimmte Aussagen nicht
bewiesen werden müssen? Braucht man Beweise und Argumente, wenn man z. B.
mit der Aussage "der Spatz sitzt auf dem Baum" konfrontiert wird?
Für Plantinga ist die Aussage, dass Gott existiert
eine Grundwahrheit und erfordert keine Beweise. Einzig die induktive
Schlussfolgerung macht nach Plantinga deutlich, ob man für eine Aussage
Beweise braucht oder nicht. Es ist keineswegs so, dass wir einige
Bedingungen für Grundüberzeugungen festlegen können, und wir dann jede
Aussage, bei der wir diese Bedingungen erfüllt sehen, als Grundüberzeugung
akzeptieren können. Plantinga wurde deshalb mit der Frage konfrontiert,
warum man nicht jede Aussage akzeptieren sollte, die als Grundüberzeugung
erklärt wird, wenn die induktive Schlussfolgerung als einzige Möglichkeit
angesehen wird, zu Grundüberzeugungen zu gelangen. Nach Plantingas Ansicht
kann man mittels ein wenig Nachdenken den Unterschied schnell erkennen
kann, und dabei bezieht er sich auf Calvin, der sagte, dass wir die
Gotteshand durch eine geheime Stimme, die in unserem Inneren ruft,
erkennen können, wie aber sollen wir daran glauben, dass der Kürbis in der
letzten Oktobernacht auf dem Acker zu sehen ist?¹
Plantinga schlägt eine weitgehend induktive Methode
vor, d. h. wir sollten rationale Grundüberzeugungen (d. h. Überzeugungen,
die nicht auf der Grundlage anderer Überzeugungen aufbauen) untersuchen
und von diesen Beispielen können wir einige Hypothesen über das Wesen von
Grundüberzeugungen entwickeln. Allerdings impliziert der fehlende Maßstab
für die Bestimmung einer Grundüberzeugung nicht, dass es keine echten
Grundüberzeugungen gibt und dass der Glaube an Gott keine Grundüberzeugung
ist.
Hier werden die Grenzen des Denkansatzes von
Plantinga deutlich. Denn mit der Argumentation, der Glaube an Gott sei
eine Grundaussage, kann jede beliebige klare Aussage zu einer Grundaussage
erhoben werden ungeachtet dessen, ob andere diese akzeptieren oder
nicht.
Diese Methode bringt uns also nicht weiter, denn wir
wissen, dass Annahmen von zweierlei Art sind, nämlich zum einen intuitiv,
d. h. keines Beweises bedürftig, und zum anderen theoretisch, d. h. auf
Lernen, Nachdenken und Beweisen basierend. Die Aussage "es gibt einen
Gott" gehört entweder zu den abgeleiteten Aussagen oder zu den
grundlegenden Aussagen; eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Wenn
Plantinga mit der Grundüberzeugung die inneren Wahrnehmungen meint, ist
dies richtig, weil ein Bezeugen (direktes Sehen), das auf Gewissheit
basiert, akzeptabel ist. Es gibt viele große religiöse Persönlichkeiten,
die mittels direktem Sehen das Ziel erreicht haben. Mulla Hadi Sabzawari,
ein großer Mystiker und Philosoph sagte beispielsweise: "Die Intensität
Deiner Erscheinung, o Gott, hat Dich verborgen. Dein Inneres und Dein
Äußeres sind in Wirklichkeit offenbar."
Oder im Qur'an, in Sure Ibrahim, Vers 10, heißt es:
"... ,Existiert etwa ein Zweifel über Gott, den Schöpfer der Himmel und
der Erde?'..."
Von Imam Husayn (der Friede sei mit ihm) ist
folgender Ausspruch überliefert: "Blind ist das Auge, das Dich nicht
sieht!"
Wir wissen allerdings auch, dass wir auf Beweise und
logische Schlussfolgerung nicht verzichten können, auch wenn das direkte
Sehen im Zusammenhang mit der inneren Wahrnehmung richtig ist. Die
Geschichte der Religion zeigt uns, dass überall dort, wo aus welchen
Gründen auch immer kritisches Hinterfragen nicht möglich war, die Menschen
ihre Kreativität eingebüßt haben und der gesellschaftliche und
zivilisatorische Fortschritt gehemmt wurden.
Nun kann man die Frage stellen, welche Bedeutung die
Religion dem Hinterfragen oder Nachfragen zumisst. Warum sind viele
religiöse Menschen und auch Gesellschaften allgemein nicht daran
interessiert, Fragen zu stellen?
Es ist ein dem Islam inhärentes und allgemein
bekanntes Merkmal, dass alle Fragen, gleich in welchem Bereich, zulässig
sind. Wenn die Fragen z. B. nicht zu den Grundlagen des Glaubens
vordringen, kann man diesen nicht logisch darstellen und interpretieren.
Die Geschichte lehrt uns, dass die Propheten und Imame an ernsthaften
Fragen interessiert waren. War Adam (der Friede sei mit ihm) etwa
kein neugieriger Mensch? Hat er keine Fragen gestellt? War der letzte
Prophet, Muhammad (Gottes Segen sei mit ihm und seiner Familie),
nicht an Fragen über den Sinn der Religion usw. interessiert? Hat Imam
'Ali (der Friede sei mit ihm) nicht immer gesagt: "Fragt mich, so lange
ich unter euch weile." Heißt es im Qur'an denn nicht: "... Gib denn die
frohe Botschaft Meinen Dienern; es sind jene, die auf das Wort hören und
dem besten von ihm folgen..." (Sure az-Zumar, Verse 17 und 18).
Selbstverständlich ist der Islam ein Ideenkomplex,
ein Glaube, mit dem man sich auseinander setzen muss, und wenn man diese
Auseinandersetzung bewältigt hat, dann hat man die Möglichkeit der Wahl:
"Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist nun klar erkennbar
geworden gegenüber dem unrichtigen..." (Sure al-Baqara, Vers 256).
Angst vor Fragen haben jene, die im Inneren ihres
Wesens unsicher sind; aber die qur'anische Logik ist nicht mit Schwäche
oder Unsicherheit in Zusammenhang zu bringen. Der Qur'an führt den
Menschen durch rationale Argumentation und logische Beweise auf den
rechten Weg. Er verlangt vom Menschen, dass er seine Vernunft gebraucht
und über die göttliche Offenbarung nachdenkt. Wer mit der religiösen
Kultur vertraut ist, weiß genau, dass ihr Zwang, Willkür, Fatalismus und
blinde Nachahmung fremd sind. Grundsätzlich liegt ein großer Unterschied
zwischen dem Islam und den anderen Religionen darin, dass der Islam Wissen
als notwendiger Bestandteil des Glaubens ansieht. Gott fordert vom
Menschen, dass er sich auf keinen Weg aufmachen soll, den er nicht genau
kennt. Wie könnte Gott als Symbol der Allwissenheit Menschen zu sich
einladen und Ihnen gleichzeitig gebieten, nichts zu hinterfragen? Der
religiöse Mensch ist vielmehr verpflichtet, die islamischen Prinzipien zu
erforschen. Jeder Muslim soll die Grundlagen der islamischen
Weltanschauung studieren und sich mit ihnen auseinander setzen. Wie schön
hat dies Imam 'Ali zum Ausdruck gebracht, wo er für jene, die Fragen
stellen betet: "Woher kommen sie? Warum sind sie hier? Und wohin gehen
sie?" Das ist der Prozess der Entwicklung und des Fortschritts.
Nun könnte man die Frage aufwerfen, warum der Islam,
der sich gegen Fatalismus, Willkür und Zwang richtet und sich als eine
fortschrittliche Religion sieht, die überall und jederzeit praktizierbar
ist, mit kritischen Menschen und Querdenkern seine Probleme hat? Die
Antwort ist klar: es gilt zu differenzieren zwischen der Religion und dem
religiösen Menschen. Es gibt viele Menschen, die sich mit der äußeren
Erscheinungsform der Religion beschäftigt haben und darüber die innere
Wirklichkeit der Religion vernachlässigt haben. Es gibt viele Menschen,
die ihre religiösen Ansichten als für alle Menschen gültig ansehen. Diese
Menschen haben nicht nur die anderen sondern sich selbst von der Wahrheit
und den neuen Erkenntnissen der Religion abgehalten. Solche Menschen gibt
es in jeder Gesellschaft, und sie sind für sich selbst verantwortlich.
Fragen haben in der Religion den tiefen Sinn, gleich einer sprudelnden
Quelle Kreativität, Erneuerung, Entwicklung und Fortschritt
hervorzubringen, und die religiöse Existenz erblüht, wenn sie in dieser
Sichtweise wurzelt. Die Vorstellungen von der Religion und die Bedürfnisse
des Menschen sind der zeitlichen Veränderung unterworfen. Stets werden wir
mit einer neuen Welt konfrontiert, und diese neue Welt braucht neue
Gesetze, neue Fragen, neue Antworten und sogar eine neue Atmosphäre. Wenn
zwei Tage im Leben eines Menschen völlig identisch sind und keinerlei
Veränderung erfahren, dann hat er zumindest einen Tag verloren. Es ist
selbstverständlich, dass jede neue Erscheinung mit neuen Fragen
einhergeht. Für jede neue Situation müssen neue, vernünftige und logische
Antworten gefunden werden, und deshalb sollte man nicht sagen, wenn es
keine neuen Fragen gibt, gibt es auch keine neuen Aufgaben! Unsere großen
Persönlichkeiten waren deshalb neugierig auf neue Fragen und manchmal
haben sie bewusst neue Fragen gestellt, um dadurch die religiöse Masse aus
dem Schlaf der Nachlässigkeit zu wecken.
Der Qur'an erzählt uns die Geschichte von Abraham
(der Friede sei mit ihm), der alle Götzen zerschlägt und dann
seine Axt dem größten und einzig noch verbliebenen Götzen in die Hände
legt. Mit dieser Tat wirft er neue Fragen auf: entweder müssen die
Menschen akzeptieren, dass der große Götze die kleinen zertrümmert hat,
oder aber, wenn sie dies nicht akzeptieren, müssen sie eingestehen, dass
der Götze ohnmächtig war und dies nicht verhindern konnte. Mit derartigen
Fragen wurden viele Menschen aus dem Schlaf der Naivität und der
Unwissenheit geweckt und dem wahren Gott und Schöpfer näher gebracht. Wenn
religiöse Institutionen neue Fragen nicht akzeptieren können, wie stehen
sie dann zu Menschen wie Abraham? Abraham zeigt uns unsere menschliche
Verantwortung auf, nämlich den Weg der Aufklärung zu beschreiten und
tapfer auf die Suche nach der Wahrheit zu gehen. Man sollte nicht alles
mit dem Argument rechtfertigen, es sei gefährlich. Abraham ist unser
Vorbild. Wenn sich die Methodologie der Religion nicht weiterentwickelt,
wird die Religion ihre Funktion in der Gesellschaft verlieren, und das ist
das bittere Schicksal der Religion im Westen. Die Religion ist im Westen
heute eine Randerscheinung; sie ist am gesellschaftlichen, kulturellen,
wirtschaftlichen und politischen Geschehen nicht wirklich beteiligt. Wenn
die religiösen Akteure ihre Verantwortung und Erneuerung nicht
vernachlässigt hätten, wäre die Religion heute nicht in dieser Situation.
Wie kann man von den Menschen verlangen, dass sie religiöse Gebote und
Verbote und die religiöse Wahrheit insgesamt annehmen, wenn sie diese
nicht verstanden haben?
Gott, als Schöpfer des Menschen, lädt ihn zum
Nachdenken ein und stellt in seinem Buch neue Fragen für die Menschheit.
Das Buch Gottes, der Qur'an, stellt sich selbst vor mit neuen Fragen,
neuen Antworten und einer neuen Art der Argumentation, wie aus allen
Versen des Qur'an deutlich wird. ".. ,Sind solche, die wissen, denen
gleich, die nicht wissen?'..."
(Sure az-Zumar, Vers 9).
"Meint der Mensch etwa, er würde sich selbst
überlassen sein?"
(Sure al-Qiyama, Vers 36).
"O ihr, die ihr glaubt, soll Ich euch (den Weg) zu
einem Handel weisen, der euch vor qualvoller Strafe retten wird?"
(Sure
as-Saff, Vers 10).
Wie kann diese göttliche Veranlagung des Menschen,
durch neue Fragen und Antworten Gott besser zu erkennen, vernachlässigt
werden? Wie kann ein Mensch anderen Menschen verbieten, sich mit neuen
Fragen über die Religion auseinander zu setzen? Diese Sichtweise, wonach
die religiösen Aussagen und das Hinterfragen und Nachfragen einander fremd
sind, ist einer vernünftigen, zeitgemäßen und überzeugenden Antwort nicht
nützlich und sogar falsch und ist mit dem Wesen und der Logik der Religion
nicht vereinbar. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass es wichtig
ist zu differenzieren zwischen der Religion, die wir von unseren Vorvätern
übernommen haben und der Religion, die wir selbst durch unser geistiges
Bemühen erkennen. Erstere ist schwach und zerbrechlich und letztere
innovativ und fortschrittlich.
Dr. M. Razavi
Rad
Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften